Spiegelinterview Pflegeversicherung
Pflegeversicherung:
Warum Reformen langfristig nicht ausreichen
Krise der Pflegeversicherung
»Dazu verdammt, immer teurer zu werden«
Die Pflegebeiträge sollen wieder steigen, die Politik streitet, wie man die Finanzen der Pflege sichert. Experte Bernhard Emunds erklärt, warum die meisten Reformen auf Dauer nicht helfen.
Ein Interview von Matthias Kaufmann
11.11.2024, 19.55 Uhr • aus DER SPIEGEL 46/2024
SPIEGEL: Herr Emunds, vor Kurzem sorgten Meldungen für Aufregung, wonach die Pflegeversicherung vor der Zahlungsunfähigkeit stehe. Geht das überhaupt?
Emunds: Eine reale Gefahr ist das nicht. Die Pflegeversicherung hat einen gesetzlichen Auftrag, wenn dafür das Geld nicht reicht, wird aus Steuertöpfen nachgeschossen.
SPIEGEL: Warum dann der Alarm?
Emunds: Damit wurde die nächste Erhöhung des Pflegebeitrags vorbereitet.
SPIEGEL: Vor dem Koalitionsbruch sprach man angeblich darüber, den Pflegebeitrag um gerade mal 0,15 Prozentpunkte im kommenden Jahr anzuheben.
Emunds: Solche Mehrkosten sind nie willkommen, und diesmal werden obendrein die Krankenkassenbeiträge steigen. Die Ampelkoalition hatte versprochen, ohne steigende Sozialabgaben auszukommen. Man wollte frühzeitig für Verständnis sorgen.
SPIEGEL: Und, haben Sie Verständnis für Beitragserhöhungen?
Emunds: Ich habe großes Verständnis für Menschen, denen das zu viel wird, gerade wenn sie selbst knapp bei Kasse sind. Aber natürlich muss auch die Finanzierung der Pflege gesichert sein. Und die ist gerade in der jüngeren Vergangenheit oft aus Gründen teurer geworden, die gut nachvollziehbar sind.
SPIEGEL: Welche sind das?
Emunds: Die Inflation, die auch den Pflegesektor trifft. Dann Tarifabschlüsse und gesetzliche Regeln, die dafür sorgen sollen, dass Pflegeberufe anständig bezahlt werden – schließlich fehlt es in der Pflege an Fachkräften. Die neuen Vorschriften für Personalschlüssel kosten natürlich Geld, sichern aber ein bestimmtes Qualitätsniveau und sollen verhindern, dass sich Pflegepersonal überarbeitet. Ein guter Teil des Kostenanstiegs ist zudem noch immer auf die Reform der Pflegestufen zurückzuführen, die Hilfe für gebrechliche Menschen insgesamt zugänglicher gemacht hat.
SPIEGEL: Kritiker sagen, dass der Versicherung Kosten aufgebürdet wurden, die sie eigentlich nicht tragen müsste.
Emunds: Da geht es meist um die Zusatzkosten aus der Coronapandemie, Schulden von fünf bis sechs Milliarden Euro, die eigentlich der Bund übernehmen müsste – das war auch so schon angekündigt worden. Damit ließe sich wahrscheinlich die Erhöhung im kommenden Jahr verhindern. Aber zusätzliches Geld aus dem Bundeshaushalt? Da geht im Moment gar nichts!
SPIEGEL: Es gibt offenbar grundsätzliche Probleme: Immer wieder werden die Beiträge erhöht, auf der anderen Seite müssen sich Pflegebedürftige oder ihre Angehörigen dennoch sorgen, ob die Pflege sie finanziell ruiniert…
Emunds: …und zudem ist klar, dass die Kosten im System weiter steigen werden, selbst wenn man die kurzfristige Finanzierung wieder in den Griff bekommt. Ja, es gibt ein grundsätzliches Problem.
SPIEGEL: Nämlich?
Emunds: Das ist die Geringschätzung von Sorgearbeit in Deutschland. Sorgearbeit in der Familie bleibt nicht nur unbezahlt. Vielmehr wird, wer viel Sorgearbeit leistet, vom Staat kaum unterstützt. Zudem liegt das Lohnniveau für soziale Berufe immer noch knapp 20 Prozent unter dem vergleichbarer Berufe. Sorgearbeit zählt einfach nicht viel in unserer industrie- und exportfixierten Gesellschaft!
SPIEGEL: Woran liegt das?
Emunds: Es ist schlechte Tradition: Arbeit, die mit dem Körper eines anderen Menschen oder mit unserer körperlichen Präsenz im Raum zu tun hat, wird in der Öffentlichkeit abgewertet; geistige Arbeit, aber auch Industriearbeit wird als wichtiger angesehen. Diese Abwertung ist zudem eng mit den Geschlechterverhältnissen verbunden, die Sorgearbeit ist klassischerweise Frauenaufgabe. Dabei wird übersehen, dass Sorgearbeit überhaupt erst die Bedingungen herstellt, unter denen alle andere Arbeit geleistet werden kann – und unter denen Muße möglich ist. Weil die Politik für diese Themen oft blind ist, hat sie lange nicht verstanden, mit welcher Dringlichkeit sie sich um den heranrollenden Pflegenotstand kümmern müsste.
SPIEGEL: Karl Lauterbach hat sinngemäß gesagt, dass er eine Reform plane, nur sei die unter den Bedingungen der Ampelkoalition nicht zu machen gewesen.
Emunds: Vermutlich würde auch unter besseren Koalitionsvoraussetzungen nicht das Nötige getan. Denn eigentlich braucht es eine aufwendige Grundsanierung des Pflegesystems.
SPIEGEL: Was halten Sie für nötig?
Emunds: In der häuslichen Pflege muss man sich darüber klar werden, dass der Staat eine doppelte Verantwortung hat: gegenüber den Pflegebedürftigen, auch wenn sie nicht in Heimen versorgt werden, und gegenüber den Angehörigen. 84 Prozent der Pflegefälle werden schließlich zu Hause betreut. Auch wenn Pflegedienste im Einsatz sind, tragen die Angehörigen die Hauptverantwortung. Zumeist jedoch sind sie ganz auf sich gestellt. Viele geraten in soziale Isolation oder werden chronisch krank. Manche rutschen in Armut. Das bestehende Pflegesystem geht an diesen Problemen völlig vorbei.
SPIEGEL: Wie würde es besser gehen?
Emunds: In der häuslichen Pflege bräuchte es mindestens zwei große Neuerungen. Zum einen ein engmaschiges Fallmanagement, am besten auf kommunaler Ebene. Die Fallmanager sind Ansprechpartner für die Pflegenden, sie weisen Mittel zu, helfen durch den Paragrafendschungel, koordinieren die Zusammenarbeit mit diversen unterstützenden Diensten, die auch auszubauen sind. Sie stehen im ständigen Kontakt mit den Angehörigen, auch um zu sehen, wann die psychologische Hilfe brauchen oder einfach mal einen Pflegeurlaub. Sie beraten und helfen damit, Pflegefehler zu vermeiden.
SPIEGEL: Und zum anderen?
Emunds: Müsste man das Pflegegeld ersetzen durch ein Pflegendengeld. Das bekommen Angehörige, wenn sie im Job kürzertreten oder vorübergehend ganz aussteigen. Es sichert die Menschen materiell ab und sollte sich am Mindestlohn orientieren. Wer daneben in Teilzeit im alten Job bleibt, bekommt es anteilig. Beratung und Sachleistungen in der häuslichen Pflege wären davon unabhängig, auch die Leistungen der Pflegeversicherung für die stationäre Pflege würden dadurch nicht tangiert. Mit einem solchen Pflegendengeld würde man anerkennen, dass die Pflege von Angehörigen nicht ein Hobby oder ein Liebesdienst ist, sondern Arbeit, die auch so entlohnt wird. Und man würde verhindern, dass sich Menschen um die eigene Existenz bringen, wenn sie pflegen.
SPIEGEL: Den Beitrag zur Pflegeversicherung senken Sie so aber nicht.
Emunds: Die Gesamtkosten für das Pflegesystem würden steigen. Aber das Pflegendengeld als Entgelt für gesellschaftlich notwendige Arbeit ist aus Steuern zu finanzieren. Da es das bisherige Pflegegeld als größten Ausgabeposten der Pflegeversicherung ersetzen würde, würde der Pflegebeitrag sogar sinken.
SPIEGEL: Das stieße aber nicht nur bei der FDP auf Ablehnung.
Emunds: Mag sein. Aber die Reserve, mehr öffentliches Geld für Pflege auszugeben, liegt daran, dass vielen ein ganz grundlegender Zusammenhang nicht klar ist: Pflegeleistungen, die von Erwerbstätigen erbracht werden, sind dazu verdammt, immer teurer zu werden. Da kann man so viel reformieren wie man will, diese Entwicklung ist nicht aufzuhalten.
SPIEGEL: Warum ist das so?
Emunds: Das ist einfache Volkswirtschaftslehre: Bei der Industriearbeit sind starke Steigerungen der Arbeitsproduktivität möglich, durch Innovationen, durch Maschinen und Computer, durch KI. Das bedeutet, dass mit der gleichen Zahl von Arbeitskräften immer mehr Waren hergestellt werden können. Bleibt es in etwa bei den Absatzpreisen, dann können die Industrieunternehmen ohne Gewinneinbußen höhere Löhne zahlen und bessere Arbeitsbedingungen bieten. Bei Pflegearbeit sind solche Steigerungen der quantitativen Produktivität kaum möglich, weil die Arbeit immer am einzelnen Menschen erbracht wird. Wenn Menschen auch in Zukunft in der Pflege erwerbstätig sein sollen, müssen sich Löhne und Arbeitsbedingungen dort ebenfalls verbessern. Deshalb müssen professionelle Pflegeleistungen im Verhältnis zu industriell produzierten Waren auf die Dauer immer teurer werden. Das haben wir über Jahrzehnte erlebt.
SPIEGEL: Demnach müssten in Zukunft die Ausgaben der Gesellschaft für Pflege weiter steigen.
Emunds: Richtig. Leider geht die Politik fast immer den gegenteiligen Weg: Sie verspricht, dass die Sozialabgaben eben nicht steigen. Damit hungert sie den Pflegebereich aus. Das ist der Kern der Misere.
SPIEGEL: Das ist die theoretische Erklärung für hohe Pflegeausgaben. Was haben die Menschen konkret von hohen öffentlichen Ausgaben für Pflege?
Emunds: Das Ziel ist ein funktionierendes Pflegesystem, in dem für alle Gebrechlichen gut gesorgt wird, ganz gleich, ob Angehörige mit anpacken können oder nicht. In dem jeder, der seine Angehörigen gern pflegen möchte, dabei bestmöglich unterstützt wird. Und in dem es als Alternative auch gute stationäre Pflege gibt. Unterm Strich kauft man das, was in einer Gesellschaft am kostbarsten ist, in der die meisten keine materiellen Nöte mehr kennen: Zeit.
Bernhard Emunds, geboren 1962, ist Professor für Christliche Gesellschaftsethik und Sozialphilosophie und leitet das Nell-Breuning-Institut in Frankfurt am Main. Der promovierte Ökonom hat Katholische Theologie, Geschichte und Volkswirtschaft studiert, zu seinen Forschungsschwerpunkten zählt die Ethik der Erwerbsarbeit und des Sozialstaats.
Wie geht es mir im Alter?
Wir befassten uns mit dem Thema „Pflege“. Nach einem gemeinsamen Gottesdienst mit dem Diözesanpräses der KAB, Peter Nirmaier, erhielten die Teilnehmer einen Überblick über das Leistungsspektrum eines Pflegestützpunktes.
Hier gibt es dazu weitere Infos: www.pflegestuetzpunkte-rlp.de
Als Referentin und Gesprächspartnerin konnte Frau Petra Kumschlies vom Pflegestützpunkt Waldfischbach-Burgalben gewonnen werden. In einem weiteren Programmteil stand das Thema
“Gute und menschenwürdige Pflege heißt für mich… ?“ im Mittelpunkt.
Verbunden damit ist die Auseinandersetzung mit den eigenen Erwartungen, Befürchtungen und Ängsten mit Blick auf eigene Pflegesituationen und Pflegeerfahrungen.
Der Einrichtungsleiter des Pflegeheimes Limburgerhof, Herr Hassa, musste krankheitsbedingt seine Teilnahme leider absagen. Thomas Eschbach zeigte einen
sehr nachdenkenswerten Youtube-Film zum Thema: https://www.youtube.com/watch?v=T90eN-g2z7g
AK Pflege Besuch in Limburgerhof
Das Thema Pflege wird in unserer Gesellschaft immer drängender für viele Betroffene. Die Zahl der Pflegebedürftigen steigt stetig und im Gegenzug nimmt die Zahl der Beschäftigten in diesen Bereichen stetig ab. Um dieses Dilemma zu lösen oder wenigsten die Not abzumilndern, sind viele Akteure notwendig. Die Umsetzung einer menschenwürdigen Pflege ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe wo Familien, der Staat, Institutionen, Pflegeeinrichtungen und -dienste und andere gesellschaftliche Organisationen zusammenarbeiten müssen.
Wir planen in unserem Arbeitskreis Pflege aktuell einen "Tag der Pflege", der Menschen auf den Tag "X" vorbereiten soll, d.h., dass Menschen sich rechtzeitig mit dem Thema Pflege und seinenv vielen Facetten auseinandersetzen. Hierzu stehen wir in Koopertaion mit unterschiedlichen Organisationen, wie Sozialstationen oder Pflegestützpunkten.
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