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Wachstum - Wachstum - Wachstum?

Wirtschaftswachstum ist vor allem seit der Industrialisierung zu einem zentralen Indikator für die wirtschaftliche Entwicklung und den Wohlstand geworden. Nimmt die Summe bezahlter Güter und Dienstleistungen innerhalb einer bestimmten Zeitperiode, z. B. einem Jahr, zu, nennt man dies Wirtschaftswachstum.

Als Bemessungsgrundlage dient das Bruttoinlandsprodukt (BIP), also die Gesamtheit aller Waren und Dienstleistungen, die innerhalb eines bestimmten Zeitraums in einer Volkswirtschaft erzeugt bzw. bereitgestellt werden. Wirtschaftswachstum erfasst also nur das, was innerhalb eines Landes in Geldwerten gemessen und verglichen werden kann. Der Rest bleibt außen vor.

Was eigentlich wächst, wird zudem ebenfalls in dem großen Indikator„ Wirtschaftswachstum“ im Einzelnen nicht abgebildet oder bewertet. So schlagen etwa Unfallschäden im Straßenverkehr, Schäden durch Bodenbelastungen oder durch Luftverschmutzungen ebenso positiv zu Buche wie medizinische Behandlungen oder die Betreuung von Kindern. Der Maßstab des Wirtschaftswachstums ist monetär; das BIP als Berechnungsgrundlage „einseitig“. Der Wert ehrenamtlicher Arbeit findet zum Beispiel keine Berücksichtigung.

Auf diese Einseitigkeit hat 2009 die Kommission der Europäischen Gemeinschaft hingewiesen, wenn sie zutreffend feststellt: „Das BIP ist (...) nicht dazu gedacht, den längerfristigen wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt und insbesondere die Fähigkeit einer Gesellschaft zur Lösung von Problemen wie Klimawandel, effiziente Ressourcennutzung oder soziale Integration ganz zu messen.“
Deshalb — so die Kommission — sei das BIP einseitig und bedürfe dringend der Ergänzung durch andere Faktoren, um die Entwicklung einer Wirtschaft bzw. einer Gesellschaft besser und umfassender abbilden zu können.


Amartya Sen, indischer Wirtschaftsnobelpreisträger, hat als Alternative und Ergänzung zum einseitigen Wirtschaftswachstumeine breitere Bemessungsgrundlage entwickelt, die die Lebenssituation der Menschen umfassend(er) erfasst. Ausgangspunkt für Sen ist dabei die Armut, die er als Mangel an Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung begreift Es geht nicht nur um materielle Dinge, sondern etwa ebenso um den Zugang zu natürlichen Ressourcen (Wasser, Energieetc.), um Bildung, eine intakte Infrastruktur, Gesundheit und angemessenen Wohnraum. 

Gerade die Armen können diese Zugänge, ihre Rechte nicht in ausreichendem Maße über Einkommen sichern. Deshalb bedarf es einer Stärkung von Fähigkeiten und Strukturen jenseits des Geldes, einer Stärkung zur Produktion in eigener Regie (Eigenproduktion) oder des Tauschens. Aufgabe des Staates nach Sen ist es, folglich für absolut gleiche Voraussetzungen und Rechte zu sorgen, damit jede/r seine Fähigkeiten in die Gesellschaft einbringen kann. 

Die KAB hat deshalb in ihrem „Würzburger Beschluss“von 2011 ein „Wachstum gegen die Armut“ gefordert: „Um die Armut zu beseitigen, muss das wachsen, was den Armen nützt. Die vorrangige Befriedigung von Grundbedürfnissen,das Eröffnen von Handlungschancen und faire Verfahren sind unverzichtbare Bestandteile, um Gerechtigkeit mit und für die Armen zu schaffen.“ (Ziff. 23)

In den reichen Ländern sind die Wachstumsraten längst kein Indikator für allgemeinen Wohlstand und subjektives Wohlbefinden mehr. Die Behauptung, dass mehr Wirtschaftswachstumzu mehr Gleichheit und „Wohlstand für alle“ führe, ist wiederlegt, denn die soziale Spaltung und die Armut haben auch in den reichen Gesellschaften sich verfestigt bzw. weiterzugenommen. Trotz steigendem Pro-Kopf-Einkommen und steigendem BIP werden wir zudem nicht zufriedener, nicht glücklicher. Denn, um glücklich zu sein, bedarf es neben der materiellen Dinge anderer Faktoren, wie Zufriedenheit mit der Arbeit, Gesundheit, Bildung, einer intakten Umwelt, Erfolgserlebnisse, eines guten Selbstwertgefühls, Lebenswerten und nicht zuletzt sozialer Sicherheit.

Innerhalb der öffentlichen Diskussion genießt das Wirtschaftswachstum aber weiterhin trotz seiner Einseitigkeit und Unzulänglichkeit den zentralen Stellenwert. Die Wachstumsideologie ist ungebrochen. Wer den sinkende Wachstumsraten prognostiziert, bricht in der Öffentlichkeit umgehend eine breite Diskussion darüber aus, wie das Wirtschaftswachstum wieder angekurbelt werden kann. Ohne Wirtschaftswachstum haben wir Angst als „Wirtschaftsnation“ abzustürzen, im internationalen Wettbewerb nicht mithalten zu können und im gnadenlosen Verdrängungswettbewerb der Globalisierung zurückzufallen. 

Fehlendes 
Wirtschaftswachstum kostet Arbeitsplätze, also ist es alternativlos. Wir müssen so weiter machen wie bisher.  Allenfalls die eine oder andere Korrektur ist möglich, aber der eingeschlagene Weg muss gegangen werden. Eine heute geforderte differenzierte kritische Auseinandersetzung mit dem Wirtschaftswachstumspfad wird so bereits im Keim zu ersticken versucht. Diese ist aber notwendig. 

Die 
Fragen der Zukunft sind: Was kann und darf noch wachsen? Was muss schrumpfen? 

Diese Fragen können heute nur noch 
unter Einhaltung von ökologischen Grenzen beantwortet werden, denn ein Wirtschaftswachstum, das weiterhin auf die Plünderung der Erde aufbaut, muss umgehend an sein Ende kommen.

Die angesichts der Klimawandels und der sozialen Spaltung unserer Welt dringend notwendige Wende scheitert (immer noch) an einer kapitalistischen Wirtschaftsweise, die auf ständiges Wachstum setzen muss, um überleben zu können. Daneben wächst aber längst das Wirtschaften nach einem anderen Paradigma, nämlich dem der Selbstbeschränkung, der Bedürfnisbefriedigung aller statt des Luxus’ weniger, der Selbstbestimmung statt der Fremdbestimmung, der überschaubaren und kontrollierbaren regionalen Wirtschaftskreisläufe, des Tausches, Reparierens, gemeinsamen Nutzens von Gütern, einer neuen Zeitsouveränität und der Pflege des „sozialen Kapitals“. 

„Postwachstumsgesellschaft“ 
und „Postwachstumsökonomie“ sind für die Entwicklungen in diese Richtung zwei zentrale Stichworte: hin zu einer „sinnstiftenden Wertschöpfung“, hin zu einer guten Wirtschaft.

Die Erkenntnis, dass sich auch mit weniger oder ohne Wirtschaftswachstum Gut wirtschaften und leben lässt, wird durch unzählige Praxisbeispiele belegt. Eine andere Form des Wirtschaftens ohne den „Wachstumsfetisch“ ist möglich!

„Wer an die Möglichkeit eines ständigen Wirtschaftswachstums glaubt, ist entweder ein Narr oder ein Ökonom“, hat der chilenische Ökonom Manfred Max-Neef zutreffend festgestellt.

Im Volksmund heißt es: „Die Bäume wachsen nicht in den Himmel.“ Vielleicht sind es diese einfachen Erkenntnisse, die am Anfang der Wende hin zu einem guten Wirtschaften stehen müssen. Das, was Wohlstand und Zufriedenheit ausmacht,werden wir neu erkennen und lernen. Eine Politik, die zukunftsfähig sein will, wird sich darauf einstellen und erkennen, dass die Grenzen des Wachstums längst erreicht sind. Sie wird den sozialen Zusammenhalt, den sozialen Ausgleich, soziale Sicherheit und den sozialen Frieden befördern. Denn wir wirtschaften nicht um des Wachstums willen, sondern für das gute Leben aller.

Dr. Michael Schäfers

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